Bd. 64 Nr. 8 (2022): atp magazin
Mehr Effizienz und Flexibilität sind nicht erst durch die aktuellen weltpolitischen Verwerfungen Eigenschaften, die für die industrielle Produktion zunehmend wichtiger werden. Auch vor dem Hintergrund der Klimaverträglichkeit und Nachhaltigkeit ist gerade die Reduzierung des Energieverbrauchs ein enormer Hebel.
Blicken wir in diesem Kontext auf das Digitalisierungstempo der Prozess- und Verfahrenstechnik könnten wir von einem gelinde ausgedrückt mäßigen Tempo ausgehen. Doch gerade in der Chemie- und Pharmaindustrie wird bereits seit mehr als 50 Jahren an der Effizienz und Flexibilität geschraubt, wie Prof. Dr.-Ing. Alexander Sauer, Leiter des Fraunhofer IPA, im Interview deutlich macht.
Und das mit Erfolg, denn während dieser halben Dekade ist bereits einiges passiert. Die Prozessindustrie hat wie ein Chamäleon ihr Erscheinungsbild mehrmals verändert und agiert dabei nicht so behäbig wie gedacht.
Mit Technologien wie KI, dem Digital Twin, der Modularisierung und der NOA-Architektur kann die Branche ihr Antlitz nun noch schneller transformieren und weitere große Schritte in Richtung Klimafreundlichkeit gehen. Das atp magazin 8/2022 zeigt, wie die Prozess- und Verfahrenstechnik diese Enabler wertstiftend einsetzen kann.
Die Interview-Highlights:
"Flexibilität schafft Systemeffizienz"
Die grüne Transformation der produzierenden Industrie hin zu mehr Klimafreundlichkeit ist die große Aufgabe der kommenden Jahre, die von allen Branchen gelöst werden muss. Wie Unternehmen den Weg hin zur Klimaneutralität am besten bewältigen und warum sie ihre Produktion dafür vielleicht nach der Sonne ausrichten sollten, erklärt Prof. Dr.-Ing. Alexander Sauer, Leiter des Instituts für Energieeffizienz in der Produktion EEP der Universität Stuttgart, im Interview.
"Die Verwaltungsschale ist der Kern des Digital Twin"
Die Industrial Digital Twin Association (IDTA) treibt seit März 2021 die Weiterentwicklung der Verwaltungsschale voran und koordiniert die Bemühungen rund um die Teilmodelle. Im Interview geben die beiden Geschäftsführer Meik Billmann und Dr. Christian Mosch Einblick in die Roadmap der IDTA und verraten, wie die Organisation zur weltweiten Single Source of Truth für die Asset Administration Shell (AAS) werden möchte.
"Die Zeit der Roboter-Gärten ist vorbei"
In kaum einer Branche können KI und Machine Learning zu einem größeren Nachhaltigkeitshebel werden als in der Robotik, die schon heute dank dieser Zukunftstechnologien immer neue Branchen und Use Cases erschließt. Im Interview erklärt Jörg Rommelfanger, Leiter der Robotics-Division von ABB Deutschland, was Roboter heute schon voneinander lernen können und macht deutlich, dass die Zeiten von eingezäunten Fertigungslinien schon bald der Vergangenheit angehören werden.
Die peer-reviewten Hauptbeiträge:
Roboterprogrammierung mithilfe von AutomationML
Grüner Wasserstoff bildet einen der aktuell vielseitig erforschten Energieträger. Im Bereich der Automatisierungstechnik steht dabei die Erzeugung, die Speicherung und der Transport von Wasserstoff im Vordergrund. In laufenden Forschungsprojekten mit Leitcharakter, wie beispielsweise H2Giga, wird dabei die automatisierte Montage von Elektrolyseanlagen untersucht. Der Beitrag beschreibt hierzu ein Konzept, wie auf Basis von bestehenden Montageplänen automatisch Roboterprogramme erstellt werden. Die Autoren verwenden AutomationML als Datengrundlage für die im Beitrag beschriebenen Algorithmen. Leser:innen bekommen einen Überblick über den Ablauf der automatischen Generierung und erhält wertvolle Hinweise zu bestehenden Hürden und Forschungsfragen.
Realisierung und Evaluation des Verwaltungsschalen-Metamodells
Python gehört zu den am schnellst wachsenden Skriptsprachen im Ingenieursbereich. Begründet wird dies durch die vergleichsweise niedrigen Einstiegshürden sowie zahlreiche öffentlich zur Verfügung stehende Bibliotheken. Gleichzeitig können Python-Skripte sowohl in der Cloud als auch in der Edge sowie überall dazwischen betrieben werden. Ein Grund für die Autoren, den Aufbau einer Verwaltungsschale ebenfalls mithilfe einer Python-Bibliothek zu vereinfachen. Hiermit wird es möglich, Teilmodelle automatisiert zu generieren bzw. dies dem Menschen in assistierter Funktion zu erleichtern. Grundlage bildet das von der Plattform I4.0 veröffentlichte UML-Modell für die Repräsentation von Informationen in der Verwaltungsschale.
Orchestration of modular plants
Die Modularisierung von Anlagen der Prozessindustrie gilt mehr denn je als Enabler für eine flexible und wandelbare Produktion. Dabei spielt das Module Type Package (MTP) eine tragende Rolle für die Beschreibung der Engineering-Aspekte eines Moduls. Trotz zahlreicher neuer Methoden bleibt jedoch die Frage nach dem Engineering-Aufwand für die automatisierungstechnische Verschaltung einer konfigurierten Anlage. Hierbei müssen die Module hinsichtlich ihrer in Diensten abgebildeten Fähigkeiten korrekt kombiniert werden. Die Autoren stellen im Beitrag eine Methode vor, mit der die als Orchestrierung bezeichnete softwaretechnische Zusammenführung der einzelnen Module sinnvoll und effizient gelingt. Basis hierfür bildeten zahlreiche Interviews mit Expert:innen in einem großen Konsortium, sodass Akademia und industrielle Praxis Hand in Hand gehen.
Using domain-knowledge to improve machine learning
KI und insbesondere Machine Learning (ML) stehen ganz oben auf der Liste der Dinge, die helfen sollen, die steigende Komplexität in industriellen Produktionsprozessen zu beherrschen. Gleichzeitig existieren nach wie vor zahlreiche Domänen, in denen keine oder lediglich wenige Daten für das maschinelle Lernen zur Verfügung stehen. Im Beitrag greifen die Autor:innen diese Problematik auf und untersuchen den Stand der KI im Bereich der Einbeziehung von Domänenwissen. So werden beispielsweise Parameter und Zustände von physikalischen Gleichungen mit maschinellem Lernen (Deep Learning) geschätzt. Ein anderes Beispiel betrifft die Robustheit von Neuronalen Netzen in Bezug auf Unsicherheiten oder Ausreißer in den Trainingsdaten. Ein gelungener Ausblick auf das, was bald kommen wird.
Industrielles Transfer-Lernen
Wie auch der Beitrag „Using domain-knowledge to improve machine learning “ beschäftigen sich die Autoren in diesem Artikel mit den bestehenden Problemen für Maschinelles Lernen im industriellen Einsatz. Dabei wird insbesondere das Prinzip des Transfer-Lernens erläutert, bei dem die Trainingsdaten für Neuronale Netze mit Prozesssimulationen erzeugt werden. Dabei streut man die Parameter der Simulation großzügig, um den Algorithmus auf die in der Realität vorkommenden Änderungen vorzubereiten. Diese Vorgehensweise wird im Beitrag anhand mehrerer Use-Cases, wie beispielsweise Verschleißvorhersage, Roboterprogrammierung oder visuelle Objekterkennung erläutert.