Bd. 65 Nr. 3 (2023): atp magazin
Letzte Hoffnung Zeus? Die Blitze des griechischen Göttervaters, die er vom Olymp auf uns hinunterschleudert, könnten die letzte Chance für das Gelingen der Energiewende sein. Und damit auch für die All Electric Society, schließlich fehlt uns hierzulande schlicht der Strom, um eine umfassende Elektrifizierung von Industrie und Gesellschaft zu realisieren.
Sogar der ZVEI-Präsident Dr. Gunther Kegel gibt im Interview zu, dass die Abkehr von fossilen Energieträgern die Vision der All Electric Society gefährdet. Ist die Elektrifizierung damit vorerst gescheitert? Nein, widerspricht Dr. Kegel und ergänzt: „Wir müssen jetzt an der All Electric Society arbeiten, obwohl sie erst in 20 Jahren Realität sein wird!“
Dabei steht, wie Prof. Dr. Alexander Fay (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) im Editorial dieser Ausgabe betont, vor allem der Ausbau der erneuerbaren Energieerzeugung im Vordergrund. „Es geht
aber auch um die Einsparung, die sinnvolle Verteilung sowie eine durchdachte Nutzung von Energie.“
Im atp magazin 3/2023 erfahren Sie daher nicht nur, wie es um den Status quo der Vision einer elektrifizierten Gesellschaft steht, sondern auch, wie Sie langfristig klimaschonender produzieren können. An welchen Stellschrauben Sie dafür heute schon drehen können, zeigt Ihnen das vorliegende Heft.
Die Interview-Highlights:
"Wir müssen jetzt an der All Electric Society arbeiten"
Eine sichere Energieversorgung Deutschlands ist mit dem Ukraine-Krieg und dem daraus entstandenen Gasmangel in weite Ferne gerückt. Heute laufen hierzulande noch immer Atomkraftwerke und sogar die Kohleverstromung erlebt ein Revival. Ist die Energiewende und damit auch die Vision der All Electric Society vorerst gescheitert? Nein, die Umsetzung muss sogar noch schneller erfolgen, sagt Dr. Gunther Kegel, ZVEI-Präsident und CEO von Pepperl+Fuchs, und erklärt im Interview, worauf es energiepolitisch jetzt ankommt und warum das Potenzial grünen Wasserstoffs mancherorts überbewertet wird.
"Das Zeitalter der kognitiven Roboter beginnt"
Die Evolution der Robotik begann mit stationären Montagerobotern in der Automobilherstellung und führte über kollaborierende Roboter bis hin zu autonomen Transportsystemen. Jetzt kommt mit kognitiven Robotern, die sehen, hören und tasten können, eine neue Evolutionsstufe hinzu. Im Interview macht David Reger, CEO von NEURA Robotics, deutlich, wieso Roboter mit Sinn und Verstand die industrielle Produktion grundlegend verändern können und warum Deutschland gar kein so schlechtes Gründungsland ist, wie oft behauptet wird.
Die peer-reviewten Hauptbeiträge:
Der Weg zur klimaneutralen Produktion
Eine klimaneutrale Produktion erfordert effizientere Produktion – Aufgabe der Betreiber –, reduzierten Energieverbrauch der Automatisierungskomponenten im Prozess sowie einen niedrigen Product Carbon Footprint (PCR) in der Herstellung der Automatisierungs-Devices. Der Beitrag zeigt durch Tests an einem Versuchsstand, dass ein kontinuierliches Monitoring Probleme wie Veränderungen im Versorgungsdruck oder Schäden wie Federbruch erkennen kann. Dadurch kann auch mit kleineren Komponenten und verringerten Drehmomentreserven ein zuverlässiger Betrieb erreicht werden. Im Beispiel lässt sich dadurch der PCR in der Herstellung des Antriebs um 30 % und der Druckluftverbrauch um 52 % senken.
Planungsfunktionen für (Energie-)Speicher
Die Arbeitspreise für elektrische Energie schwanken im Laufe eines Tages um den Faktor zwei. Da liegt es einerseits nahe, Strom zu nutzen, wenn er billig ist – vorausgesetzt, dass der Prozess das ermöglicht wie beispielsweise bei Mühlen mit ausreichend Puffervolumen für das Produkt. Andererseits können sich Batteriespeicher lohnen. Beide Ansätze erfordern eine gute Planungslogik für die Automatisierung. Zielvorgabe können die reinen Kosten, aber auch die CO2-Emissionen sein. Einen hohen Einfluss auf die Ergebnisse haben der Wirkungsgrad der Speicher und die Speichergröße – hier reicht eine Kapazität von vier Stunden.
Informationsmodellierung zur Überwachung der energiebezogenen Leistung
Energiemanagementsysteme helfen Unternehmen, ihre Energieeffizienz zu verbessern. Um das zielgerichtet zu tun, muss man die Energieverbräuche auf die Anlagen und Prozessschritte runterbrechen, sprich ein energiebezogenes Informationsmodell entwickeln. Der Beitrag schlägt hierzu sechs Schritte vor: Strukturierung des Produktionssystems; Integration der energiebezogenen Daten in die Struktur; Erstellen der benötigten Informations-Instanzen; Ermittlung der relevanten Variablen, Definition von Kennzahlen für den Energieverbrauch der Anlagen und Prozessschritte und
schließlich Nutzung dieser Daten zur Betriebsplanung. Erst nach diesen gut definierten Schritten kann man gezielte Maßnahmen erarbeiten.
Verwaltungsschalen aus Excel?
Während Excel der „Faustkeil des Ingenieurs“ ist, ist die Verwaltungsschale (VWS, eng. Asset Administration Shell, AAS) ein standardisiertes und interoperables Objekt, das eine Industrie-4.0-
Kommunikation ermöglicht. Die Autoren stellen eine Erweiterung des AAS-Managers vor, welche die Übertragung von Altdaten in Verwaltungsschalen unterstützt. In einer grafischen Oberfläche wird festgelegt, welche Daten der Quelle (Excel) in welchen Teilmodelle der VWS anzulegen sind. Dies erfordert keine Programmierkenntnis und kann in einem VWS-Generator zur Massenbearbeitung
genutzt werden.
Nonlinear Model Predictive Control
Die modell-prädiktive Regelung ist seit Jahrzehnten bewährt, scheitert in der Praxis aber häufig an
fehlenden Prozessmodellen. Häufig verwendet der Betreiber – meist aus dem Engineering-Prozess –
ein dynamisches Simulationsmodell der Anlage als Digitalen Zwilling. Diese Simulation und die Basis-Automatisierung im PLS können dann für die modellprädiktive Regelung verwendet werden. Außerdem ermöglicht das Modell, unbekannte Prozessgrößen über Prozessnachbildung als sogenannte Soft-Sensoren zu ermitteln. Der Beitrag zeigt am Beispiel einer industriellen Polymerisation den praktischen Nutzen dieser Technologien.