Bd. 64 Nr. 1-2 (2022): atp magazin 1-2/2022

atp 1-2/2022

In der Prozess- und Verfahrenstechnik herrscht Aufbruchstimmung! Kaum ein Unternehmen der Branche hat keine Nachhaltigkeitsziele definiert, viele haben sogar bereits einen konkreten Fahrplan zur eigenen Sustainability ausgearbeitet.

Doch gerade in der Chemie- und Pharmaindustrie machen es die langen Anlagenlebenszyklen sowie die geringe Innovations- und Digitalisierungsgeschwindigkeit den Betreibern mehr als schwer, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen. Von Seiten der Politik wird der Druck darüber hinaus systematisch erhöht, jetzt doch endlich CO2-neutral zu produzieren.

In diesem Spannungsfeld wird vor allem eines häufig übersehen: Ohne ausreichend grünen Strom wird die Prozessindustrie vermutlich nie auf den grünen Zweig kommen. Dafür ist der Energiebedarf der Branche einfach zu groß. Doch woher soll er kommen, der klimaneutrale erzeugte Strom, wenn wir uns von konventionellen Kraftwerken und der Atomkraft lösen? Sonne, Wind und Hamster?!

Im atp magazin 1-2/2022 zeigen wir, wie der Weg zu einer klimaneutralen Chemie-und Pharmaindustrie aussehen kann und welche Weichen ihr Unternehmen dafür jetzt stellen muss. Gleichzeitig legen wir den Fokus auch auf die Bestandsanlagen und erklären, wie Sie ihr Brownfield fit machen für eine klimaneutrale und vor allem digitale Zukunft.

Die Interview-Highlights:

"Ohne grünen Strom keine Klimawende in der Prozessindustrie" (Attila Bilgic, Felix Hanisch)
Das von allen Seiten geforderte Gebot der Klimaneutralität lastet auf kaum einer Industrie so schwer wie auf der Prozess- und Verfahrenstechnik, die besonders in volatilen Zeiten immer noch eher träge daherkommt. Wie die Klimawende in der Chemie- und Pharmaindustrie dennoch gelingen kann und warum dies zu gestalten mindestens genauso sexy ist wie Teslas bauen, erklären Dr. Attila Bilgic, Vorstandsvorsitzender der VDI/VDE-GMA, und Dr. Felix Hanisch, Vorstandsvorsitzender der NAMUR, im atp-Interview.

"Mit Normung gestalten wir die Zukunft" (Christoph Winterhalter)
Ohne Normen keine öffentlich zugängliche Technologie. So ungefähr könnte man die Bedeutung der Normung beschreiben. Dennoch werden Normungsprozesse oftmals eher als Innovationsbremse wahrgenommen. Um mit diesem angestaubten Vorteil aufzuräumen, beschreibt Christoph  Winterhalter, CEO des Deutschen Instituts für Normung (DIN), im atp-Interview seine Arbeit und warum Normen heute eher Open-Source-Projekte sind.

Die wissenschaftlichen Hauptbeiträge:

Informationsmodelle in Anlagenlebenszyklus
Menschen sind flexibel – meist funktioniert Kommunikation auch, wenn keine exakt definierten Begriffe verwendet werden. Computer benötigen dagegen standardisierte Informationsmodelle und Begriffe, um Daten richtig zu interpretieren. Nach einer grundlegenden Einführung folgt ein Überblick über diverse Informationsmodelle der Prozessindustrie. Mehrere Beispielanwendungen zeigen mögliche Nutzungen von Informationsmodellen.

Das NOA-Informationsmodell
Für das Konzept NAMUR Open Architecture (NOA) wurde anhand von Anwendungsfällen festgelegt, welche Daten in einer einheitlichen Form zur Nutzung zur Verfügung gestellt werden müssen. Diese Daten wurden eindeutig definiert (s. NAMUR-Empfehlung NE 176) und im Process Automation Device Information Model (PA-DIM) umgesetzt. Die Vorgehensweise wird an einigen Anwendungsfällen erläutert. Der Beitrag erklärt, wie diese Daten in das Konzept der Verwaltungsschale integriert werden können.

Security für die NAMUR Open Architecture
Eine Grundlage des NOA-Konzepts (NAMUR Open Architecture) ist, dass das Auslesen von Daten aus der Core-Process-Control-Domäne rückwirkungsfrei sein muss, also die Integrität der Prozessautomatisierung nicht gefährdet. In der NAMUR-Empfehlung NE 177 wird beschrieben, wie diese Anforderung mit den verbreiteten Methoden der IT-Sicherheit (IEC 62443) erfüllt werden kann. Verschiedene bereits auf dem Markt erhältliche Implementierungen werden vorgestellt.

NOA Verification of Request
Das NOA-Konzept ermöglicht das sichere Auslesen von Daten. Aber wenn diese Daten zu  Verbesserungsmöglichkeiten führen – wie können diese Vorschläge sicher und geprüft in die Core-Process-Control-Domäne eingespeist werden? Das ist die Aufgabe des NOA-Bausteins Verification
of Request (VoR). Der Beitrag stellt dar, welche Anforderungen die VoR erfüllen muss und wie das sicher realisiert werden kann. Die sich daraus ergebenden Aufgaben für Anbieter und Betreiber werden demnächst in der NAMUR-Empfehlung NE 178 veröffentlicht.

APL in der Prozessindustrie
Die im Jahr 2022 eingeführte Ethernet-APL-Technik ermöglicht Internet-Geschwindigkeit im  explosionsgefährdeten Bereich mit Zweidraht-Leitungen. Da sehen die Feldbusse einfach alt aus. Aber APL ist eben „nur“ die physikalische Ebene. Man benötigt weiterhin eine Geräteintegration, bevorzugt FDI, industrietaugliche Protokolle, bevorzugt Profinet oder EtherNet/IP sowie OPC UA mit den NOA-Bausteinen als „zweitem Datenkanal“. Damit wird die Integration von Feldgeräten einfacher, also sie je war.

Sicherheit trotz Distanz
Das Internet macht’s möglich, Corona macht’s immer nötiger: Arbeiten an Automatisierungssystemen können häufig nicht mehr unter den kontrollierbaren Bedingungen vor Ort erfolgen, sondern Remote – aus dem Home Office oder dem Büro eines Dienstleisters. Die NAMUR-Empfehlung 135 macht sehr konkrete Vorschläge, wie diese Zugriffe sicher abgewickelt werden können. Dazu sind unter anderem immer mehrere Beteiligte einzubinden, sorgfältige Vorbereitungen zu treffen und zuverlässige Dokumente zu erzeugen.

Veröffentlicht: 03.02.2022